Johannesevangelium lesen nach der
Auschwitzfahrt
Diesen 8. Mai als
Erinnerungstag an das Ende des Krieges 1945 begehe ich anders
als sonst…
Im Zusammenhang mit den
KarTagen der KSJ in Auschwitz haben wir uns auch mit den Tätern
von damals befasst. Gerade in diesem Jahr ist eine Fülle an
wissenschaftlichen . Untersuchungen zu den Tätern und ihren
Motiven erschienen. Es ist ein riesiger Abstand von mehr als 60
Jahren zum Kriegsende – aber erst jetzt stellt man sich den
unbequemsten Wahrheiten. Zum Beispiel dieser:
Dass die schlimmsten Täter
in den KZs nicht die dumpfen Kriminellen waren, die als Kapos
eingesetzt waren (die gab es auch), sondern studierte Köpfe,
Intellektuelle wie Ärzte, hohe Verwaltungsbeamte und
Professoren. Mengeles entsetzliche medizinische Experimente
waren getrieben von seinem wahnsinnigen Ehrgeiz, in der sog.
Rassenforschung international bekannt zu werden. Wir trafen als
Zeitzeugen den 93-jährigen Wilhelm Brasse, der zwangsweise als
Funktionshäftling diese Experimente fotografieren musste. Er
sprach fast vier Stunden lang mit uns… Traumatisiert durch das,
was er damals durch das Kameraobjektiv sehen musste, konnte er
nie mehr in seinem Leben fotografieren und musste nach dem Krieg
seinen Beruf aufgeben. Aber er hatte durch diese körperlich
leichte Arbeit Auschwitz überlebt. Weil seine Porträts gut
waren, ließen sich auch SS-Offiziere von ihm fotografieren. Er
hatte einige dieser Fotos dabei, zeigte sie rund und fragte uns:
„Das sind doch die Augen eines Menschen, nicht?“
Psychologische
Erklärungsansätze können niemals als Entschuldigung dienen, aber
weil gerade junge Leute nach Erklärungen suchen, haben wir uns
mit einigen beschäftigt, von denen man persönlich und politisch
einiges lernen kann.
Ein mitleidloser Mensch zu
werden – diese Gefahr droht vor allem Menschen in totalen
Institutionen, die vollständige Verfügung über die Person
erhalten wollen. Regeln und Verhaltensweisen der Gruppe sind
hier mächtiger, das Einzelwesen in seiner freien Entscheidung
tritt zurück. Wenn die Gruppe sich dann bedroht sieht – sie muss
es nicht sein, das kann man auch konstruieren! – dann werden die
Verpflichtungsgefühle so stark, dass andere Gefühle keinen Platz
mehr haben.Tritt dann eine reale Kriegssituation ein, sind
Kaltblütigkeit und Gewaltexzesse vorprogrammiert. Dann wird das
Töten von Menschen sogar als „Arbeit“ bezeichnet; so haben das
viele Wehrmachtsangehörige nach Hause geschrieben – und damit
versucht, das Ungeheuerliche vor sich selbst zu normalisieren.
Eine weitere gefährliche
Einbindung ist die Hierarchie, also eine Position, die festlegt,
was man vorgeschrieben bekommt und was man selbst anderen
vorschreiben kann. Sie kann blind machen für eine andere
Wahrnehmung der Realität.
Die Forschung sagt
jedenfalls: „Keine Personengruppe zeigte sich immun gegen die
Verlockungen der unbestraften Unmenschlichkeit.“ Die Täter und
Täterinnen waren also normale Menschen wie wir.
Oft ist einfach nur die
konkrete Situation dafür entscheidend, was ein Mensch spontan
tut oder ablehnt zu tun. Das Buch „Soldaten“, das die
Verhaltensweisen deutscher Soldaten im 2. Weltkrieg untersucht,
beschreibt ein interessantes Experiment, das 1973 an der
Universität von Princeton durchgeführt wurde:
Eine Reihe von
Theologiestudenten bekam die Aufgabe, einen kurzen Vortrag über
das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu verfassen. Diesen
Vortrag sollte jeder Student einzeln dann in einem jeweils
anderen Gebäude der Uni halten, wo er dann für eine
Radioübertragung aufgezeichnet würde. Während die Gruppe noch
auf die Einzelaufforderungen wartete, platzte plötzlich jemand
herein und rief: „Oh, Sie sind noch da? Sie sollten doch schon
längst drüben sein! Vielleicht wartet der Assistent noch –
beeilen Sie sich!“ Der betreffende Student hastete los. Im
selben Moment wurde vor die Tür des aufzusuchenden Uni-Gebäudes
eine scheinbar hilflose Person platziert, die sich mit
geschlossenen Augen hustend und stöhnend am Boden wand. Man
konnte das Gebäude nicht betreten, ohne diese Person
wahrzunehmen. Wie reagierten die Seminaristen auf diese
Situation? Lediglich 16 von 40 Versuchpersonen versuchten, etwas
für die hilflose Person zu tun, die Übrigen liefen ohne Halt
weiter zu ihrem Termin. Besonders irritierend war, dass sich in
der Nachbesprechung herausstellte: Viele, die der hilflosen
Person nicht geholfen hatten, hatten nicht einmal bemerkt, dass
da jemand in Not war, obwohl sie praktisch über ihn gestolpert
waren.
Menschen müssen erst einmal
etwas wahrnehmen, bevor sie etwas tun, das ist das eine.
Situationen scheinen viel entscheidender für das, was Menschen
tun, als das, was sie als Ideen im Kopf haben – denn alle hatten
ja das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nicht nur gelesen,
sondern für ihren Vortrag sogar durchgearbeitet!
Die 16 Studenten, die
halfen, belegen aber auch, dass es nicht egal ist, wer mit
welcher Persönlichkeitsausstattung mit einer Situation
konfrontiert ist.
Also welche
Wahrnehmungsfähigkeit, welche Deutungsmuster, welche
Erfahrungen, Schwächen oder Stärken jemand hat. Und das kann man
pflegen und schulen, das kann man üben, am besten praktisch. Und
da kommt jetzt unser Johannesevangelium endlich ins Spiel…Es
ist das Nachtragskapitel 21.
Die Johannesgemeinde hat ja
ihre liebe Not mit Petrus als einer zentralen Figur der ersten
Gemeinden, der ein autoritärer Dickkopf gewesen zu sein scheint.
Am Ende des Johannesevangeliums, in unserem Text von heute,
macht sie ihren Frieden mit ihm. Aber nicht, ohne das
entscheidende Kriterium zu nennen, das jemand erfüllen muss, um
in der Kirche Leitung wahrnehmen zu können. Deshalb enthält
dieser Text die entscheidende Bedingung, unter der sich jemand
in der Nachfolge Christi, in seinen Gemeinden Gemeindeleiter,
Bischof oder Papst nennen darf.
Petrus wird dreimal vom
Auferstandenen gefragt, ob er ihn liebe. Wir übersetzen das
besser mit: Bist du solidarisch mit mir? Bist du solidarischer
als andere mit dem leidenden Messias, mit den Leidenden
überhaupt? Können andere an dir diese Solidarität als
vorbildlich ablesen?
Ist diese Haltung immer an
dir zu erkennen, unabhängig von Ideologien, von sich
verändernden Situationen, von Erwartungen anderer? Lässt du dich
in deiner Solidarität mit den Leidenden durch nichts irritieren?
Das ist die Voraussetzung
dafür, mit der Leitung beauftragt zu werden. Erst diese
solidarische, durchgehaltene, liebende Beziehung zum
gekreuzigten Messias, der für alle Gekreuzigten steht, ist die
Grundbedingung, unter der Leitung übernommen werden darf.
Nicht, ob jemand sich in
den Vordergrund schiebt, nicht, ob jemand Führungsqualitäten hat
oder die Bewunderung anderer genießt: Entscheidend ist die
liebende Solidarität mit den Opfern der Geschichte und die
Bereitschaft, genau darin Jesus nachzufolgen. Es ist die
Fähigkeit, nicht die Hierarchie, nicht die öffentliche Meinung,
nicht den Mainstream zu seinem Verpflichtungshorizont werden zu
lassen, sondern in der jeweiligen gesellschaftlichen,
politischen oder kirchlichen Situation niemals immun zu werden
gegenüber den Leidenden.
Das spricht eine deutliche
Sprache über die Ämter in der Kirche, es spricht aber auch
deutlich zu uns: Es ist der Auftrag, unsere Mitmenschlichkeit zu
bewahren und die Abstumpfung gegen das Leid zu verhindern. Dazu
gehört ein kritischer Blick auf unsere
Verpflichtungszusammenhänge und auf unsere Rollenfestlegungen.
Dazu gehört der Mut zur Kritik am Zeitgeist, der sich am Montag
ganz ungut zeigte in den Jubelfeiern über den ohne Prozess
hingerichteten Bin Laden. Und es ist die Aufgabe, sich möglichst
hierarchiefrei zu halten….Das ist nicht einfach in dieser Kirche
und unserer marktförmigen Gesellschaft. Aber es ist eine
unverzichtbare Vorarbeit zum Frieden.
Gott des Lebens,
Vor 66 Jahren endete der
Krieg, der von unserem Land ausging und das Entsetzlichste und
Böseste in Menschen geweckt hat. Wir bitten Dich heute als Enkel
und Urenkel dieser Zeit:
Lass nicht zu, dass wir
auf die Vereinfachungen hereinfallen, die Politiker und Medien
uns gerade in diesen Wochen nahelegen: Hier gut - dort böse,
hier weiß – dort schwarz, hier Freund – dort Feind.
Lass uns kritisch bleiben
gegen alle Versuche, die Rechtsstaatlichkeit zu umgehen, denn
sie sind eine Bedrohung des Humanen.
Schenke uns den Mut und
die praktische Fähigkeit, uns durch nichts irritieren zu lassen,
wenn es um die Wahrnehmung von Leid und Unrecht geht.
Im Vergleich zu den
Bemühungen um den Frieden ist Kriegführen einfach. Bewahre in
uns die Beharrlichkeit, die dazu gehört, auf die mühsamen
kleinen Schritte zu Verständigung und zur Versöhnung zu setzen.
Trotz schrecklicher
Erfahrungen wird uns das Kriegführen immer noch als ein Mittel
der Politik nahegebracht. Mach uns kritisch für die Interessen,
die sich dahinter verbergen: Die Verkaufszahlen der
Rüstungsindustrie, die Sucht nach Geltung und Vergeltung, die
Ablehnung von Verantwortungsübernahme.
Denn Du willst, dass der
Wunsch aller Kriegstoten und Opfer von Menschenverachtung und
Gewalt endlich wahr wird: Nie wieder Krieg!
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